„Wo der Besen nicht hinkommt, wird der Staub nicht von selbst verschwinden“

Von Redaktion · · 2005/02

Im Rahmen der Wirtschaftsreformen hörte die KP Chinas bisher vor allem auf die Stimmen der KapitalistInnen. Das könnte sich rächen, meint NI-Autor Chris Richards.

Sie ist erst 36, aber wirkt um einiges älter: Ihr ganzer Körper scheint verbraucht und ausgemergelt. Manchmal arbeitet sie den ganzen Tag und die folgende Nacht, bis in den frühen Morgen. Das Leben in der Stadt ist teuer, und sie hat für eine große Familie zu sorgen. Li Siuling ist Wanderarbeiterin, eine von 130 Millionen Männern und Frauen, die ihre ländliche Heimat verlassen haben, um in den wohl habenderen Küstenstädten im Osten zu arbeiten. Das Geld, das sie und ihresgleichen nach Hause schicken, repräsentiert mehr als die Hälfte des Einkommens der Bevölkerung im chinesischen Hinterland.
Siuling war 15, als sie die Provinz Anhui im Westen von Shanghai verließ. Es war kurz nach dem Tod ihres Vaters. Was es an Jobs in der Stadt gab, war schlecht bezahlt, gefährlich oder anstrengend. Zuerst jobbte sie in einem Restaurant für 100 Yuan im Monat (12,1 US-Dollar), ein Fünftel von dem, was ihre städtischen KollegInnen verdienten. Dann verkaufte sie Kleider für 350 Yuan (42,35 Dollar) – StädterInnen brachte dieselbe Arbeit 900 ein. Das war nur eine der Diskriminierungen, die sie erlebte.
Es gibt vier weitere. Nach 20 Jahren zahlt sie noch immer eine jährliche Gebühr für eine befristete Aufenthaltserlaubnis – wie die meisten ChinesInnen, die sich fern von ihrem offiziellen Wohnort aufhalten. Tatsächlich wird sie als Bürgerin zweiter Klasse behandelt: Sie darf nicht an den lokalen Wahlen teilnehmen, ihre Kinder haben kein Recht auf kostenlose Schulerziehung, und sie ist den Schikanen einer unterbezahlten Polizei ausgesetzt. Die Diskriminierung Nr. Fünf blieb ihr großteils erspart. Viele, die so lange wie sie in der Stadt gelebt haben, sind unverheiratet und sozial isoliert. Sie hat jedoch einen Ehemann – einen Wanderarbeiter wie sie, aus derselben Provinz.

Li Siuling lebt in Beijing. In Guangzhou, der Hauptstadt der Südprovinz Guangdong, sitze ich mit sieben VertreterInnen des Chinesischen Gewerkschaftsverbands (ACFTU) an einem Tisch, um herauzufinden, ob Geschichten wie die ihre auch hier die Regel sind. Ja, heißt es; aber nach sieben Jahren Arbeit in Guangzhou können WanderarbeiterInnen eine permanente Aufenthaltsgenehmigung beantragen und sich die entsprechenden Rechte sichern.
WanderarbeiterInnen stellen heute die Mehrheit der Beschäftigten in der Industrie des Landes. Schätzungsweise 20 Millionen gibt es allein in Guangdong, und es herrscht rege Nachfrage: China ist die Fabrik der Welt, und eines ihrer bedeutendsten Fließbänder befindet sich hier. Die Markennamen der Produkte, die aus den lokalen Fabriken strömen, lesen sich wie ein Who’s who der weltweit führenden Hersteller. Das Wirtschaftswachstum ist atemberaubend. In Großbritannien dauerte es fast das gesamte 19. Jahrhundert, bis sich das Pro-Kopf-Einkommen verzweieinhalbfachte; in Japan stieg es von 1950 bis 1975 um 600 Prozent. In Guangdong hat es sich seit 1978 versechszigfacht.
Entlang der Straße von Shenzhen an der Küste bis Guangzhou, einer Strecke von 200 Kilometern, reiht sich eine Fabrik an die andere. Auf halbem Weg ist außer Fabriksgebäuden praktisch nichts zu erkennen: Graue Blöcke aus Beton und rostendem Eisen ziehen sich bis an den im grauen Dunstschleier verschwindenden Horizont. In den großen Fabriken arbeiten 20.000, 30.000, ja sogar 70.000 Menschen, vor allem MigrantInnen aus dem ländlichen Raum. Ihr Anteil erreicht manchmal 80 bis 90 Prozent. Meist sind es junge Frauen unter 25; sie gelten als billig und gefügig. Sie kommen freiwillig hierher. Die meisten wissen, dass sie zehn bis elf Stunden pro Tag und sechs Tage die Woche, in Spitzenzeiten vielleicht regelmäßig die ganze Nacht arbeiten, müde und unausgeschlafen sein werden – Unfälle sind vorprogrammiert. Im Schnitt verdienen sie weniger als 600 Yuan (73 Dollar) die Woche; mit Überstunden bis zu 800 Yuan oder 97 Dollar.

Das System maximiert die Kontrollmöglichkeiten der Unternehmen. Mit der Auftragslage steigt der Anteil befristet Beschäftigter – 40 Prozent sind nicht unüblich. Bei sinkender Auftragslage wird man sie problemlos wieder los. Die Unterbringung ist an die Beschäftigung gebunden. Das eröffnet den Unternehmen zusätzliche Kontrolle über ihre Beschäftigten und sorgt dafür, dass sie kaum nach anderen, attraktiveren Arbeitsplätzen suchen können. Sie leben in Unterkünften neben der Fabrik oder in nahe liegenden Städten, alle nach Geschlechtern getrennt – in den besseren zu sechst in einem Raum. Selbst wenn sie die Wahl hätten (und die haben nur wenige), könnten sie es sich nicht leisten, mit einem Partner zusammen in einem Haus zu leben. Für Ausflüge in benachbarte Städte sind viele zu erschöpft: Ihr Leben beschränkt sich auf Fabrik und Unterkunft.
Ist das der „Sozialismus mit chinesischem Antlitz“, der Deng Xiaoping vorschwebte, Chinas unumstrittenem Führer Ende der 1970er und in den 1980er Jahren und Vater der Wirtschaftsreformen? Mag sein. Unzweifelhaft ist es aber die Priorität sowohl der KPCh als auch der ACFTU, die Arbeitgeberseite zu hofieren. Ihre Politik der Modernisierung Chinas beruht darauf. Um die chronische Unterbeschäftigung am Land zu bekämpfen – 2003 lag das Arbeitskräftepotenzial in den ländlichen Gebieten Chinas bei 488 Millionen, 300 Mio. davon unterbeschäftigt – müssen überschüssige Arbeitskräfte in die Städte gesaugt werden. Dazu braucht es aber Arbeitsplätze – Millionen davon. Die Zahl der Menschen, die Arbeit in den Städten suchen, könnte in den nächsten zehn Jahren auf 200 Millionen steigen.

Demgemäß wurden die lokalen Behörden mit wirtschaftspolitischen Sondervollmachten ausgestattet. Die Begriffe, die Investoren attraktiv finden, kennen sie seit langem: Sonderwirtschaftszonen, Steuerparadiese, Vernachlässigung arbeitsrechtlicher Standards. Sowohl Provinzregierungen als auch die ACFTU wissen, dass höhere Löhne und Standards Investoren vertreiben werden – in andere Teile Chinas oder, noch schlimmer, ins Ausland. Ähnliches gilt für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Im November 2002 kündigte der damalige Staatspräsident Jiang Zemin an, dass UnternehmerInnen fortan sowohl Parteimitglieder sein als auch bei den Entscheidungen der Partei mitreden würden – eine formelle Anerkennung der Realität. Von den 100 reichsten ChinesInnen, die das Magazin Forbes 2002 auflistete, bezeichnete sich ein Viertel als KPCh-Mitglieder, und neun davon waren Delegierte zum Nationalen Volkskongress, dem chinesischen Parlament.
Ebenso wie nun die Kapitalseite offiziell von der Regierung gehört wird, haben zwar auch Komitees von ArbeiterInnen sowie Gewerkschaften das Recht, von der Unternehmensführung angehört zu werden. Offiziell anerkannt ist allerdings nur die ACFTU; andere Gewerkschaften müssen sich ihr anschließen. Doch die ACFTU steht in enger Verbindung zur Partei. Der Vorsitzende des Gewerkschaftsrats in Guangzhou, Chen Weiguang, ist auch ein hoher Funktionär der KPCh, die ein Nahverhältnis zu den Unternehmensführungen unterhält. Ein Konflikt? Chen lächelt: „Oberflächlich gesehen bestehen Konflikte, aber die müssen gelöst werden.“

Wie das funktionieren kann, erfahre ich von Ma Xiao Xin, einem Panasonic-Manager, der ebenfalls am Gewerkschaftstisch sitzt. Sein Unternehmen wende sich in allen Angelegenheiten, die ArbeiterInnen betreffen, an die Gewerkschaft – so sei etwa in einer überhitzten Fabrik eine Temperatursenkung um vier Grad ausgehandelt worden. Und wer vertrete die Gewerkschaft in seiner Fabrik? Er selbst. „Wenn wir den Gewerkschaftshut aufhaben, dann müssen wir für die Rechte der ArbeiterInnen kämpfen.“
Kampfmaßnahmen scheinen unter diesen Voraussetzungen schwierig. In nur 30 Prozent der ausländischen Unternehmen in Guangdong gibt es ACFTU-VertreterInnen, und WanderarbeiterInnen konnten sich der Gewerkschaft erst seit 2003 anschließen. Zumindest kurzfristig wird sich für sie daher wenig ändern. Aber wie es in China heißt, trägt Wasser ein Boot, kann es aber auch zum Kentern bringen. Zorn und Verbitterung nehmen zu. Berichte über sporadische Streiks, Vandalismus, Sabotage und Gewalttätigkeiten durch ArbeiterInnen sickern durch die Fabrikstore und landen auf den Schreibtischen von NGOs. Bleiben die legitimen Forderungen der WanderarbeiterInnen unbeantwortet, verwandeln sie sich wahrscheinlich in ein langfristiges Problem für die Stabilität der Regierung. Es war die Landbevölkerung, die entscheidend dazu beitrug, dass die Kommunisten die Macht ergreifen konnten; in Gestalt der WanderarbeiterInnen könnte sie dafür sorgen, dass sie diese Macht wieder verlieren.

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